Fünfunddreißig Kilometer. Nur noch diese mickrige Distanz trennt mich von meinem großen Ziel Iran, dem ich seit 12 Wochen und 6000 zurückgelegten Kilometern entgegenfiebere. Doch jetzt hocke ich in meinem Hotelzimmer in Doğubeyazıt und erfinde jeden Tag eine neue Ausrede, um noch länger in der Türkei zu bleiben.
Zu sehr habe ich die Türkei in den letzten Wochen lieb gewonnen, bin ganze 7 statt der geplanten 3 Wochen geblieben. Zu groß ist aber auch mein Unbehagen gegenüber dem so geheimnisvollen und undurchschaubaren Iran. Werde ich mit den kulturellen Eigenheiten, den strengen Regeln und der neuen Sprache zurechtkommen? Wird es mir dort gefallen? Wie wird es mir dort als alleinreisende Frau ergehen?
Doch heute mache ich den Grenzübergang, keine Ausflüchte mehr! Schon um 7 Uhr früh checke ich aus dem Hotel aus. Ich muss noch dringend Bargeld besorgen, denn der Iran ist wegen der Sanktionen vom internationalen Geldverkehr ausgeschlossen – ausländische Kreditkarten funktionieren dort nicht.
Der Reihe nach klappere ich jeden Bankomat in der Fußgängerzone von Doğubeyazıt nach Euros oder Dollar ab. Keine Chance. Entnervt hebe ich also 1400 Türkische Lira ab, umgerechnet nicht einmal 500 Euro, mehr will der Automat nicht ausspucken. Ob mir das Geld für mehrere Wochen im Iran reichen wird? Irgendwie wird’s schon gehen.
Der Dolmuş-Sammelbus rattert los in Richtung iranischer Grenze, vorbei am mächtigen Großen Ararat, hinter dem Armenien liegt. Ich bin froh, als mich ein iranischer Student anspricht, der das gleiche Ziel hat wie ich: die iranische Großstadt Tabriz. Babak studiert Medizin in Ankara und nimmt für den Geburtstag seiner Mutter 24 Stunden Anfahrt in seine Heimatstadt auf sich.
Und er wird mich heute noch vor einer Reihe von Katastrophen bewahren.
Nach 30 Minuten erreichen wir die Grenzstadt Gürbulak. In gewohnter Selbstherrlichkeit haben die Türken am Grenzberg einen überdimensionalen “TÜRKIYE!”-Schriftzug angebracht. Die Ausreise auf der türkischen Seite verläuft problemlos. Im winzigen Duty-Free-Laden wird ironischerweise fast nur Alkohol verkauft. Bis zu 80 Peitschenhiebe, ausgeführt mit einem unter dem Arm geklemmten Koran, stehen nach iranischem Gesetz auf Alkoholkonsum. Aber wie mir Iraner später versichern, vertusche die Polizei das Vergehen eigentlich lieber gegen ein nettes Geldgeschenk “zirmizi”, unter dem Tisch. Außerdem könne man sich mittlerweile auch legal mit einer Geldbuße freikaufen.
Ich bedecke mein Haar mit meinem Schal und laufe durch einen Korridor aus Eisengittern zur iranischen Seite. Stutzig inspiziert der Grenzbeamte meinen Pass, als könnte er nicht ersehen wo ich herkomme. “Almanya!” sage ich, und augenblicklich drückt der Beamte auf einen roten Knopf. Die Schranke hinter mir schließt sich, ich zucke zusammen. Akribisch rubbelt er auf meinem Visum herum, um die Echtheit zu prüfen.
Ich darf passieren und werde von zwei freundlichen Grenzbeamten vernommen. In gebrochenem Englisch fragen sie lediglich nach meinem Besuchsgrund und nach meinem Hotel in Tabriz. Ich lese ihnen das teuerste aus meinem Reiseführer vor – dass ich Couchsurfing machen werde, verschweige ich natürlich. Die Schlange der wartenden Iraner hinter mir wird unangenehm lang. Mit einem Lächeln und einem schallenden
“Welcome to Iran!”
lassen sie mich endlich einreisen. Ich stelle meine Uhr um 1,5 Stunden nach vorne und das Datum um 21 Tage, 2 Monate und 621 Jahre zurück. Während mein türkischer Stempel auf den 29.10.2014 datiert ist, ist heute laut dem persischen Kalender der 5.8.1393. Die Iraner beginnen das neue Jahr nämlich zur Frühlings-Tagundnachtgleiche und ihre Zeitrechnung mit der Auswanderung des Propheten nach Medina.
Ich verlasse das Grenzgebäude und mir fällt ein Stein vom Herzen, als ich Babak am Ausgang wiedersehe. Er hat extra auf mich gewartet, obwohl er schon lange vor mir die Grenze passiert hat. Der erste Eindruck der iranischen Seite ist eigenartig. An einer Mauer ist auf Persisch Propaganda der Basidsch-Miliz angebracht. Schwarze Flaggen wurden zwischen den Nationalflaggen gehisst. Die wartende Taxis und Busse sehen ziemlich übel aus. Dazwischen hält eine Familie mitten auf einer Verkehrsinsel ein Picknick ab.
Babak zieht mich plötzlich ums Eck zu einem jungen Geldwechsler. Für 50 Lira gibt dieser mir 700.000 Rial. Ich überprüfe den Betrag kurz mit meiner Wechselkurs-App – eigentich hätte ich nur 530.000 Rial bekommen sollen. Wow, genial! Ich halte dem Burschen meinen ganzen türkischen Geldbüschel hin und er bekommt riesige Augen.
“Spinnst Du????”
hält mich Babak zurück. “In Tabriz wirst Du in den Wechselstuben noch einen viel besseren Kurs bekommen.” Was ich nicht wusste: der offizielle Wechselkurs wird künstlich zu hoch gehalten. Auf dem “freien Markt” bekommt man bis zu 40% mehr für ausländische Devisen – also noch mehr, als der Geldwechsler anbot. Babak behielt Recht und bewahrte mich davor, einen nicht unerheblichen Betrag meines eh schon sehr knappen Budgets zu verlieren. Puh!
Auch meine Idee, den Bus nach Tabriz zu nehmen, verwirft Babak sofort und führt mich in die Welt der iranischen Savaris (Shuttletaxis) ein. Zwar kosten die vier mal mehr als der Bus – was immer noch fast nichts ist – aber schaffen die Strecke oft in der Hälfte der Zeit.
Babak verhandelt mit einem Taxifahrer – die vierstündige Fahrt wird 300.000 Rial kosten, lächerliche 7,50 Euro pro Person – doch wir müssen noch auf Mitfahrer warten. In der Zwischenzeit essen wir in einem Hotel zu Mittag. Weizensuppe und Tschelo Kubide (Hackspieße mit Safranreis und Butter) für 100.000 Rial (2,50 Euro) – ein grandioser Auftakt in die deftige und teils sehr ungewöhnliche iranische Küche.
Unser Chauffeur Farhad hat mittlerweile 2 Mitfahrer gefunden und es geht los. Zunächst sitze ich hinten neben Babak, doch kurz vor der ersten Polizeikontrolle hält Farhad am Straßenrand an. Ich solle mich nach vorne setzen, denn als Frau sollte ich nicht auf dem Rücksitz mit Männern sitzen, mit denen ich nicht verwandt oder verheiratet bin. Der füllige Mann auf dem Beifahrersitz lächelt gequält und tauscht mit mir den Platz.
Obwohl ich jetzt natürlich bequemer sitze, ist der große Nachteil nun, dass ich Farhads riskante Fahrmanöver unmittelbar mit ansehen muss.
“Ich Farhad Schumacher! Autobahn! No Problem!”
kommentiert er meinen angsterfüllten Blick, als er auch noch anfängt, in aller Seelenruhe bei Tempo 120 für alle Tee einzuschenken. Ohne tschai geht eben auch im Iran nichts.
Als die Männer zu ratschen beginnen, wundere ich mich, wieso ich so viele Wörter verstehe – ich kann doch gar kein Persisch? Sie sprechen Aserbaidschanisch – eine mit dem Türkischen verwandte Sprache, die für Türken so niedlich und vertraut klingen muss wie Holländisch für deutschen Ohren. Hier im Nordwesten Irans leben nämlich kurioserweise fast doppelt so viele Azeris wie im Land Aserbaidschan selbst.
Obwohl ich passabel Türkisch spreche, richtet Farhad jedoch alle seine Fragen über mich ausschließlich an Babak. Aus westlicher Sicht eine Unverschämtheit, doch hier ist dieses Verhalten das genaue Gegenteil – ein Zeichen des Respekts.
Nach einer Stunde wird die Landschaft bergiger und die Straßen kurviger. Farhad kommt jetzt richtig in Fahrt und prescht mit Tempo 140 in die Kurven, ohne abzubremsen. Als er zwischen zwei sich überholenden LKWs in der Mitte durchfährt (!!!) – auf einer zweispurigen Straße, wohlgemerkt – kriege ich einen halben Herzinfarkt.
“Langsam!! Yawasch, Yawasch!!!”
rufe ich hysterisch und tätschele Farhad auf die Schulter. Die Männer kriegen sich wegen meiner Geste nicht mehr vor Lachen – einen fremden Mann zu berühren ist in einer solch konservativen Gegend ein Fauxpas.
Es liegen immer noch zwei Stunden Fahrt vor uns. Farzad macht das Radio an, doch anstatt von Musik erklingt ein geradezu verstörendes Schreien, Singen, Beten und Heulen. Naja, hör es Dir selbst an (Lautstärke lieber etwas runterdrehen):
Babak erklärt mir, dass ich mitten im zehntägigen Trauerfest Aschura in den Iran gekommen bin. In dieser Zeit gedenken gläubige Schiiten des gewaltsamen Todes des Imam Hossein in der Schlacht von Kerbala und es wird Staatstrauer verordnet – deswegen auch die schwarzen Flaggen im ganzen Land. Musik im Radio zu spielen ist verboten, die Leute tragen bevorzugt schwarz und es werden keine Hochzeiten gefeiert. Oder wie Babak sagt:
“Du hast Dir die schlechteste Zeit ausgesucht,
um in den Iran zu kommen!”
Tatsächlich werde ich in den kommenden Tagen auf den Straßen Selbstkasteiungsritale, hypnotische Trauergesänge und weinende Menschen sehen – Bräuche, die für Außenstehende unverständlich und beängstigend wirken. Doch genauso werde ich, gerade in dieser Zeit, die berühmte iranische Großzügigkeit und unendliche Gastfreundschaft erleben. Es gibt keine “schlechte Zeit” für ein Land.
Willkommen im Iran. Willkommen im Land, das mich in den kommenden fünf Wochen faszinieren wird. Das mich in jeder Hinsicht überraschen wird. Und mich manchmal wahnsinnig machen wird.