Donnerstag, 7 Uhr früh in Teheran. Ich laufe durch das Baharestan-Viertel und suche verzweifelt die Hauptstraße. Normalerweise muss man nur dem Lärm der Motorräder und hupenden Autos folgen, um zu ihr zu gelangen, doch heute früh ist alles wie ausgestorben. Donnerstags beginnt im islamischen Iran das Wochenende, und ich sehe weit und breit kein fahrendes Auto und keine Menschen. Kaum zu glauben, dass man den sonst im Verkehrschaos versinkenden 12-Millionen-Moloch auch so friedlich erleben kann.
Ich bin schon heillos zu spät für meine Verabredung. Ein iranischer Couchsurfer hatte mir angeboten, mich heute zum Skifahren auf den Tochal mitzunehmen, den Hausberg Teherans. Verloren zwischen den immergleichen ockerfarbenen Ziegelhäusern begegne ich endlich einem älteren Herren, der so lieb ist und mich zum Treffpunkt bringt. Seine ein halbes Dutzend Mal ausgesprochene Einladung zum Frühstück bei ihm zuhause muss ich leider ablehnen, auch wenn er immer wieder betont, wie sehr sich seine Frau über ausländischen Besuch freuen würde.
Abouzar begrüßt mich in perfektem Englisch. Sein breiter texanischer Akzent verrät, dass er längere Zeit bei seiner Verwandschaft in den USA verbracht hat. Wir machen uns in seinem Auto auf zur Valiasr Street, der längsten Straße im Nahen Osten, die Teheran komplett von Süd nach Nord bis zum Fuß des Alborz-Gebirges durchläuft.
Auf dem Weg zum Tochal passieren wir das sogenannte “Spionagenest”, die ehemalige US-Botschaft. Nach der Islamischen Revolution und Geiselnahme von 1979 , bei welcher 52 US-Diplomaten über 400 Tage lang in der Botschaft festgehalten wurden, brachen die USA alle politischen Beziehungen zum Iran ab. Seitdem wird das Gebäude von der Iranischen Revolutionsgarde genutzt und fällt heute besonders durch die dort so demonstrativ angebrachte Anti-US-Propaganda auf.
In nur 30 Minuten schaffen wir es vom Stadtzentrum zur Talstation des Tochal, was im Berufsverkehr niemals in unter einer Stunde machbar wäre. Wir nehmen uns einen Moment Zeit für den davor liegenden Aussichtspunkt Bam-e Tehran, das “Dach Teherans”, und beobachten, wie die aufgehende Sonne langsam den Smog durchdringt und den Betondickicht der Stadt in warmes Licht hüllt.
Kleidungstechnisch bin ich für das Ski-Abenteuer natürlich überhaupt nicht vorbereitet – es ist gerade mal Mitte November, und schon wenige Tage später würde ich in den heißeren Wüstenregionen Irans sein. Als ich vier Monate zuvor meinen Rucksack packte und mich von München auf dem Landweg zum Iran aufmachte, stand Skifahren nicht einmal im Entferntesten auf meinem Plan. Deshalb habe ich mir heute vorsorglich einfach alle Kleidungsstücke angezogen, die ich dabei habe: Stoffhose über Jeans-Leggins, zwei T-Shirts, eine Strickjacke, einen Trenchcoat, drei Paar Socken und zwei Schals.
Zu meinem Glück kann man sich an der Talstation des Tochal eine komplette Skiausrüstung mit Skiern, Skischuhen, Skijacke, -hose, Handschuhen und Skibrille ausleihen – allesamt nagelneu und von westlichen Marken. Insgesamt kostet das 1,3 Millionen Rial, also 32 Euro. Klingt günstig, aber für das gleiche Geld könnte man im Iran 13 Kebabs essen oder 4 Nächte in einem einfachen Hotel bezahlen.
Dementsprechend sind Wintersportarten im Iran nur den Wohlhabenden vorbehalten, da das importierte Equipment extrem teuer ist. Abouzar erzählt mir, was für ein Schnäppchen er mit seiner Skijacke gemacht habe, die von umgerechnet 800 Euro auf “nur” 400 Euro heruntergesetzt war – das ist immerhin das Monatsgehalt eines Ingenieurs im Iran.
Schon beim Skiverleih wird klar, dass wir uns die Piste heute fast ausnahmslos mit den reichen Teenagern Teherans teilen werden. Man erblickt fast nur tadellose Gesichter, deren kleine Stupsnase oder zu vollen Lippen verraten, dass sich diese jungen Leute mit noch nicht einmal 20 Jahren bereits unters Messer gelegt haben.
Für sie ist das Snowboardfahren nicht nur ein Statussymbol, sondern auch die ideale Gelegenheit, den strengen islamischen Moral- und Kleiderregeln für ein paar Stunden zu entkommen. Denn oben auf dem Berg wird sich keine Polizei um das unter den Wollmützen herausschauende Haar, das exzessive Make-Up, die zu kurzen Skijacken oder das Händchenhalten der jungen Liebespaare kümmern.
Um kurz nach 9 rattern wir mit der knapp 40 Jahre alten und nicht mehr sehr vertrauenswürdig aussehenden Telecabin (Gondelbahn) den Berg hinauf, um die knapp 2000 Höhenmeter zum Gipfel zu überwinden. Der Ski-Tagespass kostet 500.000 Rial, also 12 Euro.
An Station 5, wo wir umsteigen müssen, gibt es eine schlechte Nachricht: die weiterführende Gondel steht wegen eines technischen Defekts still. Über eine Stunde lang harren wir in den unbequemen Skischuhen in der Kälte aus. Glücklicherweise hat Abouzar Tee und Kekse dabei. Die zuführende Bahn spuckt mehr und mehr Leute aus, Männer und Frauen stehen dicht an dicht, die Anspannung unter den Wartenden wird größer.
Als es endlich weitergeht und die erste Gondel Richtung Gipfel abhebt, johlt und klatscht die Menge vor Freude. Eine sehr ungewohnte Szene in einem Land, in dem jeglicher Spaß aus dem öffentlichen Leben verbannt wurde.
Um halb zwölf sind wir endlich auf 3700 Metern angekommen, den Gipfel des Tochal direkt vor unserer Nase. Das Mini-Skigebiet Tochal besteht im Grunde nur aus einer einzigen breiten Piste, die von zwei Sesselliften bedient wird: der eine führt nur nur etwa zur Hälfte des Hangs, der andere bis ganz oben.
Ich bin recht aufgeregt, stehe ich doch heute zum ersten Mal seit 10 Jahren wieder auf Skiern. Nach ein paar Abfahrten durch den perfekten Pulverschnee stelle ich erleichtert fest, dass Skifahren tatsächlich wie das Radfahren ist – man verlernt es nicht! Meine Ehre als Halb-Österreicherin ist gerettet und ich wedle die komplette Piste, die vielleicht den Schwierigkeitsgrad blau-rot hat, in zwei Minuten herunter – etwa doppelt so schnell wie Abouzar und die wenigen anderen Skifahrer. Die Profis warten vermutlich auf den Beginn der Saison im benachbarten, größeren Skigebiet Dizin.
Die reichen iranischen Kiddies zeigen bei ihren Snowboarding-Versuchen recht wenig Eifer und sitzen zumeist im Schnee herum. Für den Sport sind wohl die wenigsten hier – die Teenager genießen es, hier auf dem Tochal an einem der wenigen öffentlichen Orte zu sein, an denen sie die Grenzen der Scharia-Gesetze nicht nur ausreizen, sondern sogar überschreiten können.
Weit weg von den strengen Augen der Moralpolizei können die jungen Frau hier ihr blondiertes Haar zur Schau stellen und müssen sich nicht für ihr starkes Make-Up oder ihre zu kurze Skijacke rechtfertigen. Auch von Geschlechtertrennung ist hier keine Spur – junge Pärchen kuscheln sich im Schnee aneinander und tauschen heimlich Küsschen aus, ohne sich vor einem Arrest fürchten zu müssen.
Nach so vielen Stunden auf den Beinen plagt Abouzar und mich am Nachmittag der Hunger und wir kehren in die große Berghütte am Fuß der Piste ein. Es ist viel los, wir holen uns an der Selbstbedienungstheke einen mäßig leckeren iranischen Hüttenschmaus – Linsensuppe, Omelette mit Essiggurke und Pommes – und pferchen uns auf einen der wenigen freien Plätze auf den roten Kunstlederbänken.
Um in der kahlen Hütte etwas Gemütlichkeit zu verbreiten, wurden ausgestopfte Hirsch- und Wildziegenköpfe an der Wand angebracht. Frauen legen ohne Scham ihre Skiklamotten und Mützen ab, die Stimmung ist ausgelassen. Abouzar erzählt mir, dass in den Berghütten an den Wochenenden verrückte Partys mit viel Alkohol stattfinden.
Hier oben auf dem Berg kann man tatsächlich für ein paar Stunden vergessen, in welchem Land man sich gerade befindet.
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