Kürzlich wurde in der Reiseblogger-Szene eine hitzige Debatte über das Thema “Ethik und Reisen” entfacht. Dabei wurde unter anderem gefordert, dass Scharia-Länder wie der Iran von Touristen boykottiert werden sollten.
Da mir gelegentlich vorgeworfen wird, dass ich wohl für die Unterdrückung von Frauen sein müsse, wenn ich in ein Land wie den Iran reise, möchte ich heute gerne mal zur Frage Stellung nehmen, ob eine Reise in den Iran moralisch vertretbar ist.
Vorgeschichte
Schon im Mai 2014, als ich die Pläne für meine große Iran-Reise verkündete, wurde ich von einer etablierten deutschen Reisebloggerin über mehrere Kanäle verbal attackiert. Sie verurteilte mich dafür, wie ich nur “Werbung” für ein Land mit solch menschenverachtender Politik machen könne, und wies mich auf die damals aktuelle Verhaftung der Macher des “Happy Tehran”-Videos hin.
Darin sieht man sechs junge iranische Frauen und Männer, wie sie in der iranischen Hauptstadt zu Pharrell Williams Hit “Happy” tanzen. Sie brachen damit mehrere Scharia-Gesetze auf einmal: Tanzen in der Öffentlichkeit, Missachten der islamischen Kleiderordnung und “unsittliches Verhalten” zwischen Unverheirateten. Die Beteiligten wurden innerhalb weniger Tage nach Veröffentlichung des Videos verhaftet.
Ich fahre also in ein Land, das Frauen systematisch diskriminiert und junge Menschen dafür verhaftet, dass sie Spaß haben. Und dieser Fall ist noch harmlos gegen die im Iran betriebene Verfolgung von Homosexuellen, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und religiösen Minderheiten.
Die Vorwürfe dieser Bloggerin haben mir damals ziemlich zugesetzt und mich immer wieder zum Nachdenken gebracht. Wie könnte ich es auf die leichte Schulter nehmen, wenn mir unterstellt wird, ethisch falsch zu handeln?
Ist eine Reise in den Iran moralisch vertretbar?
Mittlerweile habe ich darauf für mich eine ziemlich leicht zu begründende Antwort gefunden: ja, ich finde eine Reise in den Iran moralisch vertretbar.
Denn ob ich, oder ausländische Touristen in der Gesamtheit, in den Iran fahren oder nicht, wird schlicht und ergreifend nichts an der dortigen Menschenrechtssituation ändern.
Gegner argumentieren an dieser Stelle gerne, dass der große wirtschaftliche Einfluss des Tourismus berücksichtigt werden muss: wer in ein bestimmtes Land reist, kurbelt die Wirtschaft an und unterstützt damit ihrer Meinung nach ein repressives System wie den Iran.
Dabei scheint vergessen zu werden, dass eine gute Ökonomie in erster Linie dem Volk zugute kommt und eine höhere Lebensqualität schafft. Die Mehreinnahmen aus dem Tourismus könnten zwar ganz theoretisch für den Unterhalt von Gefängnissen benutzt werden, aber eben genauso gut zum Ausbau der Infrastruktur, für die Bezahlung von Lehrern oder für das Gesundheitssystem.
Im Umkehrschluss müsste ein Ausbleiben der mittlerweile jährlich 5 Millionen ausländischen Touristen dem Regime die Existenzgrundlage entziehen.
Doch selbst wenn es möglich wäre, eine weltweite Boykott-Kampagne gegen den Iran als Reiseland aufzuziehen und dadurch eine signifikante wirtschaftliche Schwächung des Landes zu erreichen, ist es meines Erachtens extremst unwahrscheinlich, dass dadurch eine Änderung des politischen Verhaltens herbeigeführt werden kann.
Der Westen betreibt seit Jahrzehnten eine strenge Embargo-Politik gegen den Iran, Kuba oder Nordkorea, und konnte dadurch offensichtlich nichts dergleichen bewirken. Warum sollte dies also durch einen Reiseboykott gelingen?
Boykotts treffen die Falschen…
Reiseboykotts sind selten eine gute Idee, wie Oliver vom Weltreiseforum vor kurzem in einem klugen Artikel darlegte. Wie alle Wirtschaftssanktionen träfe ein Reiseboykott die Menschen am härtesten, die am wenigsten für die Gräueltaten des Regimes können: das Volk!
Wer zu einem Reiseboykott aufruft, nimmt billigend in Kauf, dass zehntausende Jobs verloren gehen.
Dabei haben die Iraner eh schon genug unter den internationalen Sanktionen gelitten: die horrende Inflation machte die Landeswährung fast wertlos, der Ausschluss Irans aus dem internationalen Bankensystem verhinderte den Import lebenswichtiger Medikamente, und es kam sogar überdurchschnittlich häufig zu Flugzeugabstürzen, weil Ersatzteile nicht beschafft werden konnten.
… und führen zu Isolation statt Austausch
Darüber hinaus tun Reiseboykotts dem Land, seiner Kultur und den meisten dort lebenden Menschen unrecht und führen zu mehr Isolation.
Man nimmt sich als Reisender die Chance, die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort persönlich kennenzulernen, mit Leuten zu reden und zu sehen, wie sie wirklich leben und denken. Wer selbst in den Iran fährt, wird erkennen, dass die meisten Iraner zwar konservativ sind, aber religiösen Extremismus ablehnen, und dass viele junge Menschen sogar Atheisten sind, die den Islam geradezu verabscheuen (hier ein Artikel über meine Begegnungen im Iran).
Man stelle sich vor, man würde uns Deutsche im Ausland nur anhand von negativen Medienberichten beurteilen und uns pauschal als xenophobe Monster abstempeln, die Flüchlingsheime anzünden und zulassen, dass osteuropäische Mädchen in unser Land verschleppt und zur Prostitution gezwungen werden? Wie unfair würden wir uns dabei behandelt fühlen?
Und was sagen die Iraner dazu?
Ich bin im November 2014 also für insgesamt fünf Wochen quer durch den Iran gereist und hatte über Couchsurfing die Gelegenheit, 25 Nächte bei Einheimischen zuhause zu verbringen (hier ein Artikel über meine Couchsurfing-Erfahrungen im Iran).
Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Iraner sehr gekränkt über einen Reise-Boykott wären, da sie wieder einmal nur auf ihr menschenfeindliches Regime reduziert werden.
“What is your idea about Iran?” war die Frage, die mir von den Einheimischen am meisten gestellt wurde. Sie bringt zum Ausdruck, wie sehr die Iraner unter dem schlechten Image ihres Landes leiden, das unsere Medien ja immer gerne als “Schurkenstaat” betiteln.
Während die westlichen Medien den Iran fast immer nur mit dem islamische Regime assoziieren, identifizieren sich die Iraner selbst über ihre jahrtausendealte persische Geschichte, Kultur und Architektur: sie befolgen alte persische Feste wie Nowruz, respektieren die prä-islamische Feuerreligion des Zoroastrismus und sind unheimlich stolz, wenn Touristen beispielsweise Persepolis besuchen, eine alte Hauptstadt des antiken Perserreichs (hier mehr Reisetipps für Iran).
Als ich begann, auf Instagram Fotos aus dem Iran zu posten, verdreifachten sich meine Follower innerhalb kürzester Zeit. Alles Iraner, die fast durchdrehen, weil sich jemand sich für ihr Land interessiert, es dort schön findet und das auch noch mit der Welt teilt.
Ich ergriff die Gelegenheit und fragte in einem meiner Posts einfach mal nach: Seht ihr es als Feigheit an, wenn ich als Reisebloggerin nicht über die Menschenrechtsverletzungen im Iran berichte? Eine Iranerin schrieb dazu:
Nein, du machst es richtig! Mit deinen Bildern zeigst du allen die schönen Seiten des Iran. Über unsere politische Lage wissen wir doch selbst Bescheid. Der Iran ist ein schönes Land mit gastfreundlichen Leuten – Politik ist etwas anderes!
Über Couchsurfing hatte bei meiner Iran-Reise zwei besondere Begegnungen: ich habe den Sohn des seit 2011 inhaftierten Menschenrechtsanwalts Abdolfattah Soltani in Teheran getroffen, sowie die Nichte des Arztes, der die unglaublichen Vergewaltigungsfälle in den Gefängnissen nach der grünen Revolution von 2009 an die Öffentlichkeit brachte und dafür auf offener Straße erschossen wurde.
Warum wären zwei so schwer betroffene Opfer des Regimes so gastfreundlich zu mir, wenn ich als Touristin ebendieses Regime angeblich “unterstütze”? Für die Iraner ist diese Argumentation schlichtweg nicht nachvollziehbar.
Wenn ich Iraner auf das “Happy Tehran”-Video ansprach, fanden es die meisten übrigens recht amüsant, dass so ein “harmloser Fall” es in die westlichen Medien geschafft hat.
Nicht, dass irgendjemand das Geschehene gutheißt, aber es muss für die Beteiligten des Videos sonnenklar gewesen sein, dass sie dafür in den Arrest kommen werden. Gegen eine Kaution und eine öffentlichen Entschuldigung kamen die Macher des Videos auch sofort wieder frei. Ein Freund meinte dazu:
Für euch ist klingt so etwas vielleicht traurig. Für uns ist das einfach die Realität in unserem Land.
Die Doppelmoral im Bezug auf Iran
Auf meinen Instagram-Frage bekam sogar eine Antwort von Bahman Kalbasi, Korrespondent bei BBC Persian in New York, der als iranischer Journalist mehrere Jahre ins Gefängnis musste und deshalb in die USA auswanderte.
Ihn stört bei dieser Thematik vor allem die Doppelmoral, die in Bezug auf Iran vorherrscht: Menschen, die Reisen in den Iran für verwerflich halten, wenden die gleichen moralischen Maßstäbe komischerweise oft nicht bei Ländern wie Kuba, China oder den USA an.
Jeder soll für sich selbst entscheiden, ob er grundsätzlich in Länder fahren möchte, in denen Frauen-, Menschen-, Tier- und/oder Umweltrechte verletzt werden – und dann bitte auch konsequent sein.
Ich musste schon schmunzeln, wenn Menschen verlautbaren, dass sie durch ihre Reisen keine Länder mit repressiven Systemen unterstützen möchte, aber kein Problem damit hätte, nach Kuba zu fahren.
Wenn Menschen nicht in den Iran fahren möchten, weil sie sich im Urlaub den Scharia-Gesetzen wie dem Kopftuchzwang nicht beugen möchten, oder eine Reise in ein solches Land nicht ihren moralischen Prinzipien entspricht, ist das völlig legitim.
Wenn aber Blogger meinen, ihre persönlichen Entscheidungen und eigene ethische Überzeugung zum Standard für alle erheben zu müssen und “Blacklists” von No-Go-Reiseländern veröffentlichen, ist das für mich an moralischer Überheblichkeit und inhärenter westlicher Arroganz nicht zu überbieten.
Seit wann ist Reisen ein politisches Statement?
Noch armseliger ist es, andere Menschen für die Wahl eines nach ihrer Auffassung “ethisch unkorrekten” Reiseziels zu verurteilen. Wie anfangs erwähnt, wurde mir tatsächlich schon mehrmals vorgeworfen, dass ich wohl für die Unterdrückung von Frauen sein müsse, weil ich ja, überspitzt gesagt, fröhlich mit dem Kopftuch auf dem Schopf durch den Iran reiste.
Hm, soso? Hat jemand schon mal einem USA-Reisenden unterstellt, dass er wohl die Kriege gegen Irak und Afghanistan gut findet? Ist jeder Israel-Tourist automatisch Zionist? Bin ich für die Abholzung des Regenwaldes, weil ich in Brasilien Urlaub mache? Jemandem nur aufgrund der Wahl seines Reiseziels ein politisches Statement zu unterstellen, ist einfach nur dämlich.
Whitelists als sinnvolles ethisches Konzept
Um das Thema abzuschließen, möchte ich noch das interessante Konzept der non-profit Organisation Ethical Traveler vorstellen. Anstatt Länder an den Pranger zu stellen und Blacklists zu veröffentlichen, werden jedes Jahr die zehn besten ethisch korrekten Reiseziele gewählt.
Auf diese Weise sollen Reisende dazu ermuntert werden, diese Länder mit einem Besuch für ihre positive Entwicklung zu “belohnen”. Kriterien sind dabei unter anderem die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter im Tourismus, Tierschutz, Umweltschutz und Nachhaltigkeit.
Obwohl der Iran wegen der Menschenrechtsverletzungen kategorisch von den Top 10 ausgeschlossen ist, wurde er 2014 (neben Kuba und Ägypten) zu einer “Destination of Interest” ernannt, mit folgender Begründung:
Obwohl diese Länder noch nicht als ethisch korrekte Reiseziele betrachtet werden können, können aufgeschlossene Reisende durch einen Besuch viel lernen. Wir glauben, dass es manchmal notwendig ist, hinter den “Medien-Vorhang” zu treten und sich selbst durch direkten Kontakt mit Einheimischen über kontroverse Orte zu informieren. Dynamische Prozesse des sozialen und politischen Wandels aus erster Hand mitzuerleben ist eine unvergleichliche Erfahrung.
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