Schon in der Rezeption der Pension fällt der versiffte Teppich und die ranzige türkise Tapete auf. Tellergroße Schlaglöcher zieren das stinkende Gemeinschaftsbad. In meinem Zimmer baumelt die Steckdose aus der Wand und nachts habe ich Angst, dass mich der halbherzig an der Decke montierte Heizstrahl erschlägt. Bei jedem LKW, der über die nahegelegene Brücke donnert, bebt das ganze Haus. Einzig der morgendliche Blick von meinem Balkon auf den Tigris erinnert mich daran, wieso ich mir zwei Nächte in dieser Bruchbude in Hasankeyf antue.
Doch man muss dem Besitzer den desolaten Zustand seiner Pension in der tiefsten Südost-Türkei verzeihen. Es wäre schließlich völlig unsinnig, auch nur einen Cent in die Renovierung eines Hauses zu stecken, das man in zwei Jahren nur noch durch eine Taucherbrille sehen kann. Ein Staudamm steht kurz vor der Fertigstellung und wird bald den Ort Hasankeyf und knapp 200 andere Dörfer in den Fluten des Ilisu-Stausees versinken lassen.
Schon seit unglaublichen 60 Jahren wird eine Überflutung des Örtchens diskutiert, was an den Nerven aller Einwohner zehrt und jegliche Investition verhindert. “Wir warten, warten, und warten…” sagt Özgür, der Neffe des Pensionsbesitzers. Die türkische Regierung sieht das Staudamm-Projekt als Katalysator für die vernachlässigte kurdische Region in der Südost-Türkei. Zehntausend Arbeitsplätze sollen im Wasserkraftwerk entstehen, und die zunehmend vertrocknende mesopotamische Ebene bewässert werden.
Das bedeutet jedoch, dass Kulturdenkmäler wie die seit vermutlich 12.000 Jahren von Armeniern, Assyrern und Kurden bewohnte Zitadelle von Hasankeyf und Dutzende andere mittelalterliche Ruinen für immer verloren sind. Die Türkei missachtet die von der Weltbank gestellten Auflagen zum Schutz von Mensch und Umwelt so stark, so dass sich alle internationalen Geldgeber aus dem Projekt zurückgezogen haben.
Für das Staudamm-Projekt müssen geschätzt 55.000 Leute in der Region umgesiedelt werden. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tigris ist der Bau von Neu-Hasankeyf schon in vollem Gange. Die Preise für die Neubauten sind jedoch perfide: die Regierung böte einer Familie beispielsweise 50.000 Lira für das alte Haus, ein schickes neues Haus auf der anderen Seite koste jedoch 200.000 Lira, erzählt mir Özgür. Die umgerechnet 53.000 Euro Preisunterschied sind für eine einfache anatolische Familie nur schwer zu stemmen.
Dass das türkische Tourismusministerium im Jahr 2012 den Zugang zur Zitadelle geschlossen hat, wird als weitere Schikane gesehen. Damit ja nicht zu viele Touristen kämen und sähen, was für ein bezauberndes Fleckchen Erde hier verloren geht. Dazu noch der Bürgerkrieg an der nahen syrischen Grenze – ausländische Touristen bleiben aus. Fatal für einen Ort, der so vom Tourismus lebte.
Dabei gibt es auch bei geschlossener Zitadelle so viel zu sehen und zu tun. Wanderungen durch Canyons und die Anhöhen des Raman-Gebirges durch Granatapfelplantagen. Ruinen von tausend Jahre alten Brücken, Moscheen, Mausoleen, Hammams und Kirchen. Felsenwohnungen, die denen in Kappadokien nicht nachstehen. Freundliche kurdische Einheimische, die mich zum Picknick am Tigris einladen, als ich dort entlangsspaziere.
An vielen Orten, die ich bereise, schaue ich mit Absicht nicht alles an, damit ich einen Grund habe wiederzukommen. Aber nicht hier. In Hasankeyf wird es kein nächstes Mal geben.
Update: 2019 wurde endgültig die Flutung von Hasankeyf beschlossen. Seht hierzu den Videobericht im ARD Weltspiegel und die bewegende Bekanntmachung Stop-Ilisu-Projekts: Wir haben alle verloren – Hasankeyf versinkt