Wenn ich Şanlıurfa mit einer Farbe beschreiben müsste, dann wäre das Lila. In der Provinzstadt im tiefen Südosten der Türkei, von allen nur kurz Urfa genannt, tragen Frauen und Männer vornehmlich violette Kopftücher in allen Schattierungen – Lavendel, Flieder, Purpur. Auch Emina trägt ein solches Kopftuch, dazu einen glitzernden und mit Pailletten bestickten roten Samtmantel, wie er bei den Landfrauen hier üblich ist. Sie kam mir auf der Hauptstraße von Urfa entgegen, als ich gerade meine letzten Besorgungen vor meiner Weiterfahrt Richtung Iran machte.
Ein Lächeln genügte, um mit Emina ein Gespräch zu beginnen. Sie spricht Arabisch als Muttersprache, wie ein Großteil der Menschen in den Grenzregionen zu Syrien und Irak, die hier schon seit Jahrhunderten leben. Durch die vielen syrischen Flüchtlinge – die bitter umkämpfte Stadt Kobanê liegt gerade einmal 60 Kilometer von hier – ist der Anteil der Arabisch-Sprecher in den letzten vier Jahren enorm gestiegen.
Glücklicherweise spricht Emina auch Türkisch – das musste sie in der Schule lernen. So erfahre ich, dass sie 17 Jahre alt und seit zwei Jahren mit ihrem Cousin verheiratet ist. Das ist bei weitem nicht das erste Mal, dass ich so etwas höre. Arrangierte Hochzeiten innerhalb der Familie und in diesem jungen Alter sind im Südosten der Türkei immer noch ziemlich normal – der Familienbesitz wird schließlich ungern über die Mitgift mit einer anderen Familie geteilt. Emina freut sich über mein Kompliment zu ihrem Kopftuch. Ihr Mann käme gleich, und dann könnten wir zusammen auf den Basar gehen und ein solches Kopftuch für mich kaufen.
Kurz darauf erscheint Yusuf. Der drahtige 25-jährige in eng geschnittenen Hose, blauem Jeanshemd und dem modischen Cardigan passt gar nicht so recht zu Emina. Auf einem Arm balanciert er eine grauen Tragetasche. Da drin ist doch nicht etwa ein Baby? Stolz lässt er mich in die Tasche luren, um die zwei Monate alte Tochter Elif Nur zu sehen. Die beiden bitten mich um ein Familienfoto.
Bevor es zum Basar geht, möchte das junge Paar noch mittagessen. Wir nehmen Platz im “Familiensalon” (aile salonu) eines Kebab-Ladens, dem für Frauen und Familien reservierten Sitzbereich, der sich im Obergeschoss von so gut wie jedem türkischen Restaurant befindet.
Yusuf spricht gut Englisch, was hier sehr selten ist. Im Sommer arbeitet er in einem Hotel in Antalya mit skandinavischen Touristen, im Winter in einem großen Warenhaus in Istanbul. Beide Städte sind 20 Stunden mit dem Bus von Urfa entfernt. Gibt es denn keine Arbeit in Urfa? Gerade für jemanden mit so gutem Englisch? Nicht wirklich, dafür kämen zu wenig ausländische Touristen hierher. Und in Antalya werde man auch viel besser bezahlt als in Urfa.
Die beiden möchten mich auf einen gegrillten Fleischspieß (Şiş Kebap) einladen, aber ich hatte gerade erst gefrühstückt und nehme nur eine Tasse schaumig gerührtes Ayran (Köpüklü Ayran). Emina befüllt ihre Rindfleisch-Dürüms mit Zwiebeln, Koriander, Zitrone und so vielen roten Pfefferschoten, dass mir schon vom Zuschauen die Augen tränen. So etwas kostet hier sieben Lira (2,40€) das Stück.
Kaum haben die Beiden die ersten Bissen genommen, wird die Kleine quengelig. Sie hat wohl auch Hunger, und jetzt? Emina setzt sich etwas abseits vom Tisch auf den Boden und holt Elif Nur aus der Tragetasche. Das kleine Baby ist fest in eine hellblaue Wolldecke eingewickelt, und, was mich etwas schockiert, mit einem rot-gelben Häkelband eingeschnürt wie ein Postpäckchen. Die Kleine kann weder Arme noch Beine bewegen. Emina öffnet einen seitlichen Reißverschluss an ihrem Mantel, packt ihre linke Brust aus und stillt das Baby in Anwesenheit fremder Männer. Diese Selbstverständlichkeit ist für mich dann doch eigenartig, wo doch hier die Frauen so konservativ gekleidet sind (kurze Hosen, Schultern zeigen? Undenkbar!) und Männer so stark darauf achten, dass niemand ihrer Frau “etwas wegschaut”.
Als Emina an den Tisch zurückkommt, frage ich wie viele Kinder die Beiden noch möchten. “Fünf! Oder noch besser, zehn!”, platzt es aus Yusuf heraus. Emina lächelt und sagt nichts. So große Familien sind im tiefen Südosten der Türkei immer noch gang und gäbe; fast jeder mit dem ich hier rede hat um die zehn Geschwister.
Wir verlassen den Kebab-Laden und begeben uns in den überdachten Basar von Urfa. Mit “pazar” wird im Türkischen übrigens der Wochenmarkt bezeichnet, der dauerhafte Basar heißt “çarşı”. Jedes Verkaufsgut hat dort seinen eigenen Bereich – Gewürze, Küchenutensilien, Teppiche, Schuhmacher, die Anzugschneider, sogar Tauben. Wie in anderen untouristischen Märkten wird man hier auch als Ausländerin null von Händlern belästigt oder angesprochen, außer mit einem gelegentlichen unaufdringlichen Buyurun! (“Bitte schön!”). Nach kurzer Zeit erreichen wir den Kopftuch-Bazar. Fachmännisch sucht Emina für mich das beste Tuch aus und bindet es mir in Hausfrauenmanier um – einmal diagonal falten und die beiden Enden im Nacken verknoten.
Emina und Yusuf entschuldigten sich, sie müssten jetzt zurück nach Hause. Ich kaufe das Tuch für 15 Lira, umgerechnet 5 Euro, und bedanke mich für ihre Hilfe. Auf dass wir uns eines Tages wiedersehen, inshallah – so Gott will.
Ich schlendere weiter durch den Bazar, ein kurdischer Tuchverkäufer bittet mich um ein Foto. Als dessen Sohn sein Handy zückt, um meine Emailadresse zu notieren, lese ich auf seinem Hintergrundbild Bijî Berxwedana Kobanê – “Es lebe der Widerstand in Kobane”. Energisch erklärt Cenap, dass er gerne in Kobane gegen den Islamischen Staat mitkämpfen möchte, aber sein Vater ihn nicht gehen ließe. Ich wünsche den Beiden alles Gute und verlasse den Basar durch den Teegarten.
Dies ist mein Beitrag zur Blogparade “Reisebegegnungen” von Ariane (Heldenwetter).